Laure Wyss

«Keine Verpflichtungen, keine Hemmungen, frei für Radikales» - Wie Laure Wyss (1913 – 2002) das Altern wagte

Deutsch

Paulus Akademie Zürich, 19. Januar 2008

Das fehlende Frauenstimmrecht war es, das bewirkte, dass Laure Wyss ihr Alter zu planen begann.*
Das war im Herbst 1966.
Die Rotarier vom Zürichsee wollten sich vor der Abstimmung zum kantonalen Frauenstimmrecht eine Attraktion leisten, schließlich waren die Argumente dagegen oder dafür sattsam bekannt. Die Attraktion bestand darin, die Frau, die jede Woche freundlich aus der Television lächelte und sich nach einer Stunde ebenso freundlich verabschiedete, einmal aus der Nähe zu betrachten. Diese Frau sollte zeigen, ob sie die Rotarier beim Lunch fürs Frauenstimmrecht gewinnen könne.

Laure Wyss reichte eine scharfe Nachspeise:
«Heute werden wir Frauen alt, wir werden sehr alt. (…) Wenn unser jüngstes Kind 15 Jahre alt ist, haben wir noch 25 Jahre zu bestehen. Jahre der Reife sagt man, es sind oft Jahre, die wir allein verbringen, weil die Kinder in Amerika sind und der Ehemann gestorben. (…) Es heißt nichts anderes, als dass das, was wir gern als eigentliche frauliche Aufgabe bezeichnen (…), vorübergehend ist.»1
Deshalb, so legte sie den Männern nahe, brauchen ihre Frauen das politische Stimm- und Wahlrecht, um dereinst als Witwen die «Jahre der Reife» mit neuen Aufgaben zu füllen.
Die Attraktion zum Lunch hatten sich die Rotarier leicht verdaulich vorgestellt. Stattdessen erhielten sie das eigene Ableben und das ungebundene Weiterleben der Ehefrau serviert.

Der Abstimmungskampf interessierte Laure Wyss nicht. Die politische Gleichberechtigung war für sie eine Notwendigkeit, die keiner Diskussion bedurfte. Die zukünftige Gestaltung ihres Lebens beschäftigte sie mehr, das eigene Älterwerden trieb sie um.

Mit ihrer Rede machte sie deutlich, dass sie nicht gewillt war, die «Jahre der Reife» in ihrem Leben ungenutzt vergehen zu lassen.
Laure Wyss war damals 53 Jahre alt – nach heutiger Definition stand sie am Anfang der dritten Lebensphase. Ihr Sohn war 17 und lebte zu Hause.

Wenige Jahre später: Der Sohn von Laure Wyss zog im Herbst 1970 nach Südamerika; die Familienkatze tot. Das eidgenössische Frauenstimmrecht kam bald darauf.

Die Trennung vom Sohn verunsicherte und schmerzte, aber Laure Wyss’ Alltag verlief in gewohnten Bahnen. Sie durchlebte glanzvolle, letzte Berufsjahre vor der Pensionierung. Zusammen mit den Journalisten Hugo Leber und Peter Frei hatte sie «Das Magazin» gegründet, das am Wochenende dem Zürcher «Tages-Anzeiger» beilag. Im deutschen Sprachraum eine journalistische Pionierleistung, von anderen Zeitungen bald kopiert. Max Frisch ließ die Redaktion wissen: «Es ist, nach meinem Urteil, die weitaus beste Zeitung in unserem Land, unvergleichlich besser als auch beispielsweise das Magazin der ‚Zeit’.»2
Laure Wyss selbst nannte sich «Bettlimacherin» – als Redaktorin mache sie das Bett für andere, damit sich diese bequem hineinlegen können. Für jeden ihrer Schreiber suchte sie das passende Thema und begleitete die Recherche mit Ideen. Bevor die Texte in Druck kamen, strich sie holprige Satzgefüge glatt, besserte fade Formulierungen aus und klopfte Titel zu recht. Im Büro der «Bettlimacherin» verkehrten Jürg Federspiel, Hugo Lötscher, Hans Manz, Mariella Mehr, Niklaus Meienberg und Isolde Schaad, alle zwischen 30 und 40 Jahre alt und auf dem Weg zu bekannten Schweizer Autorinnen und Autoren.

Wie ein Seismograf registrierte Laure Wyss den Aufbruch der 68-er Bewegung und den Beginn der Frauenbefreiungsbewegung. Das Neue verstand sie als persönliche Aufforderung, als Maßstab für ihr eigenes Leben. Mit 60 Jahren notierte sie: «Es geht heute darum, dass die Frau neue Lebensformen finden müsste. Das ist die Revolution.» – «Revolution zur Freiheit/ revolutionär, kühn sein.»3
Sie spielte mit dem Gedanken, die einstige Familienwohnung im Zürcher Niederdorf aufzugeben. Ihrem Sohn schrieb sie nach Südamerika: «Warum nicht einmal in Wohngemeinschaft mit Wildfremden? Mit jungen Untermietern? Das bedingte eine große primitive Wohnung. On verra. Es wird schon alles kommen, wenn man gedanklich damit fertig wird. – Nun belästige ich Dich nicht mehr mit meinen Alt-Frauen-Problemen, die so gar nicht Deinen jugendlichen ähneln. Ich tue es nur, damit Du siehst, dass die Existenzprobleme mit einem wandern, bis ans Ende. Auch die Überprüfungen. Nie ist etwas endgültig geregelt.»4
Den Auszug des Sohnes empfand Laure Wyss als schmerzlicher Verlust, aber auch als Befreiung, als Aufbruch zu einem unabhängigen, eigenen Leben. In ihr Tagebuch notierte sie: «Das mit der Emanzipation in der 2. Lebensphase stimmt auch nicht: das emanzipierte Leben fängt erst an, nachdem die Kinder ausgeflogen.»5

Die Zeit, die sie nun für sich selbst hatte, investierte sie in Nachforschungen über weibliche Lebensläufe. Sie begann Frauen zu interviewen, daraus entstanden Lebensprotokolle über den Frauenalltag in der Schweiz. Die Zusage eines Buchverlags besaß sie noch nicht, aber es gab einen aktuellen Anlass, das UNO-Jahr der Frau 1975. Bewusst oder unbewusst bereitete Laure Wyss damit ihre eigenen «Jahre der Reife» vor. Sie schuf sich den Boden für zukünftige Bücher.

Dann geschah jäh ein Einbruch in Laure Wyss’ Leben. Der einstige Geliebte und nahe Freund starb. Zwei Jahre später wurde Laure Wyss pensioniert. Mit diesen beiden Ereignissen brach weg, was in den mittleren Lebensjahren Bestand hatte, ihr Konturen und Richtung gab.
Über ihre Gefühle schrieb sie im Tagebuch:
«Kein Bezug zum andern. Kein Bezug zu mir. Ich schwimme richtungslos. Ich suche nach einem Ziel. Hin und hergeworfen in Wünschen, Abschlüssen, Beziehungen, die keine sein dürfen, keine sind. Was ist noch zu ertragen? Durch nichts festgehalten. Keine Aufgaben. Außer Altwerden. sterben. wie sterben? wie die Auflösung? einfach Schluss? Ende?»6

In ihrer Orientierungslosigkeit begann sie eine Psychoanalyse und verordnete sich tägliches Schreiben. Laure Wyss konnte selbstquälerisch alles in Zweifel ziehen, ihre Leistungen herabsetzen, ihre Vorhaben entwerten und sich damit jeden Schritt erschweren.
In ihrem Tagebuch steht:
«Selbstüberwindung (...). Man muss es sprachlich fassen; das ist für mich entsetzliche Anstrengung. (…) Nicht alles schön, was so raufkommt. Aber schafft eine andere Beziehung zu mir selbst: distanzierter. Weniger Schuldgefühle. Alles offen. Alles kann sich ändern. Durch mich, nicht durch die andern.»7

Das Eingeständnis, literarische Ambitionen zu haben, konnte Laure Wyss nicht ohne weiteres zu lassen. Sie reagierte zuerst mit Entwertung. Sie notierte:
«Ich schreibe ein Tagebuch, als Frau, als Mensch im Jahre 1977, als jemand, der sich schreibend klarer werden will, aber nicht hinterhältig ist und nicht mit Literatur spinzelt, nicht kokettiert mit einer eventuellen Veröffentlichung.»8
Als Laure Wyss diesen selbstquälerischen Satz schrieb, waren die Lebensprotokolle als Taschenbuch erschienen mit dem Titel «Frauen erzählen ihr Leben». Der Verleger wartete auf ein nächstes Buch. Es waren mehr innere Schwierigkeiten zu überwinden und weniger äußere. Die Reifung zur Schriftstellerin ging einher mit einer späten Selbsterforschung und Selbstbejahung.
Der Weg, den Laure Wyss mit 65 Jahren einschlug, führte von der einstigen «Bettlimacherin» zur Autorin, die ohne Scheu «ich» sagt. Dieser Weg ist ablesbar an den Einleitungen ihrer ersten beiden Bücher. Im Vorwort zu «Frauen erzählen ihr Leben» beschrieb Laure Wyss ihre Rolle so:
«Ich war das Aufnahmegerät.»
In «Mutters Geburtstag», ihrem zweiten Buch, stellt sie programmatisch den Satz voran:
«Jetzt sucht die Frau ihre eigene Wahrheit. Hat sie sich nicht oft damit beschäftigt, was die andern taten, was sie dachten, was sie redeten, dabei vergaß sie sich selbst, ließ sich liegen wie ein zerknülltes Taschentuch, las sich nicht mehr auf. Jetzt fragt sie nach verlegten Dingen, nach verlorengegangenen Wörtern.»
Die Frau, die ihre eigene Wahrheit sucht, war die Autorin. Laure Wyss schrieb über sich in der dritten Person, gab Einblick in ihr einstiges Leben als alleinerziehende, berufstätige Mutter.

Aus diesem Buch stammt auch der Titel meines Vortrags. Hier nun die ganze Passage:
«Sie weiss nun besser als vorher, dass nichts sicher und verlässlich ist und dass die Stube des Alters und des Alleinseins nicht mit Kindern ausstaffiert werden darf. Es sind noch Jahre mit Leben zu füllen. Keine Verpflichtungen, keine Hemmungen, frei für Radikales.»
Über den Wegfall von Verpflichtungen und über Hemmungen, die inneren, habe ich gesprochen. Bleibt nun das radikal Gewagte.

Laure Wyss ging das Wagnis des Scheiterns ein, als sie ihr literarisches Erstlingswerk, «Mutters Geburtstag» publizierte. Sie hatte den Ruf einer journalistischen Instanz und nun trat sie als literarische Anfängerin an die Öffentlichkeit. Mit 65 Jahren reihte sie sich unter die Debütantinnen, Maja Beutler, Gertrud Leutenegger oder Verena Stefan, die alle ihre Töchter hätten sein können. Die Autoren ihrer eigenen Generation hatten längst den literarischen Olymp erreicht wie Max Frisch. Und der Nachwuchs, dem Laure Wyss das «Bettli» gemacht hatte, erhielt unterdessen Anerkennung und Preise. Keine einfachen Umstände, ein Erstlingswerk der Kritik preiszugeben.

Laure Wyss’ Bücher erschienen im richtigen Moment, als die Gesellschaft für Geschlechterfragen offen war. «Frauen erzählen» und «Mutters Geburtstag» wurden in der Schweiz Bestseller. In Deutschland erschienen sie in der angesehenen Sammlung Luchterhand.
Ermutigt durch diesen Erfolg, begann Laure Wyss zu experimentieren. Sie wagte sich an Gedichte – in den Ferien.
Ihrem Verleger schrieb sie:
«Während der 12 Tage Ferien schrieb ich, in einem Palmen- und Eukalyptusgarten, Gedichte, so ungereimte komische Gebilde, es war eine Übung und tat mir gut. Offensichtlich habe ich doch das Depressive im Roten Haus abgelegt und genieße nun den Aufwind kolossal.»9

Bis zu ihrem Tod im Jahre 2002 blieben Laure Wyss rund 25 Jahre, die sie mit Schreiben füllte. Unter dem Druck schwindender Lebensjahre schrieb sie kaum für die Schublade. Was fertig war, publizierte sie, manches gelang, manches hätte mehr Zeit gebraucht. Die Gedichte, die sie im Palmen- und Eukalyptusgarten geschrieben hatte, behielt sie zurück. Wenige Jahre vor ihrem Tod erschien ihr erster Gedichtband – nicht ohne Absicherung. Im Nachwort zu «Lascar» steht:
«Zugegeben, diese Sammlung an Texten unterscheidet sich von dem, was ich früher publizierte. Und vielleicht ist es schon eine Frage der eigenen Jahreszahl, dass ich mir ihre Veröffentlichung erlaubte.»
Die Jahreszahl betrug 81.
Diese Gedichte sind für mich das Literarischste und Schönste, das Laure Wyss geschrieben hat. In ihnen verdichten sich auf wenige Zeilen die Bilder und Motive, die sie in ihren Büchern angelegt hatte.

Die «Jahre der Reife» blieben Krisen anfällig. Doch Laure Wyss konnte dem Bedrückenden des Altwerdens Glück entgegensetzen. In einem unveröffentlichten Interview sagte sie:

«Ich schreibe schwer und ich finde Schreiben 'saumäßig schwierig'. (…) Aber 'geschrieben haben' ist ein derart seliger Zustand, dass man es eben immer wieder macht. (lacht) 'Geschrieben haben' ist etwas Wunderbares. Weil man sich überwunden hat und vieles überwunden.»10

Für das, was es für den Weg in den «Jahren der Reife» braucht, dafür prägte Laure Wyss ein wunderbares Sprachbild: «Schuhwerk im Kopf». Die mütterlichen Ermahnungen, die väterlichen Empfehlungen, was die Wahl der Schuhe betraf, nützen einem im Alter nichts. Das passende Schuhwerk, wenn einem zunehmend mehr abhandenkommt, ist ein geistiges Paar Schuhe, das den nötigen Halt gibt, um dem verbleibenden Leben Sinn und Erfüllung abzugewinnen.

Barbara Kopp

* Der folgende Text ist eine Rede, gehalten an der Tagung «Das Potenzial der späten Jahre» an der Paulus Akademie Zürich.
1 Warum ich für das Frauenstimmrecht bin. Rotarierlunch, 28.10.1966. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
2 Max Frisch an das Tages-Anzeiger Magazin, Laure Wyss und Peter Frei, 23.01.1973. Max Frisch-Archiv, ETH Zürich.
3 Tagebuch, 05.09.1972. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
4 Laure Wyss an Nikolaus Wyss, 05.01.1971. Privatnachlass Nikolaus Wyss.
5 Tagebuch, 24.06.1971. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
6 Tagebuch, o.D. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
7 Tagebuch, 22.06.1985. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
8 Tagebuch, 1977. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
9 Laure Wyss an Peter Keckeis, 01.10.1982. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.
10 Unveröffentlichtes Interview, 1993. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern.